„Operation Hernia“ in Afrika: Hilfe von Bürger zu Bürger

Dtsch Arztebl 2011; 108(40): A-2090 / B-1778 / C-1758
Moser, Karl-Heinz; Heiss, Markus; Meyer, Jürgen

„Operation Hernia“: Die kleinen Patienten sind die nächsten, die im OP des Baptist Mission Hospital von den Chirurgen aus Deutschland operiert werden. Ein Pfleger sorgt mit einer Fliegenklatsche für störungsfreies Arbeiten.Kölner Chirurgen haben in Ghana Patienten operiert, die zum Teil seit Jahrzehnten an Leistenbrüchen litten. Die Ärzte haben die großen Hilfsorganisationen umgangen, weil sie nachhaltig helfen wollen.

Die Versorgung eines Leistenbruchs stellt in Deutschland kein Problem dar. In der Regel wird der Patient zeitnah operiert und kann sofort oder innerhalb weniger Tage die Klinik oder die chirurgische Praxis verlassen. Ganz anders sieht dies in den meisten Ländern Afrikas aus. Dort gibt es viel zu wenige Chirurgen, mit der Folge, dass sich die Brüche enorm vergrößern können und erhebliche Schmerzen verursachen. Dadurch können in der Regel die betroffenen Männer ihrer meist körperlich belastenden Arbeit nicht mehr nachgehen, oder sie sterben an unbehandelten eingeklemmten Leistenbrüchen, da viel zu wenige Krankenhäuser in den ländlichen Gebieten diese Operation anbieten.
 
Die internationale Hilfsorganisation „Operation Hernia“ hat es sich zum Ziel gesetzt, alle Arten von Bauchwandbrüchen in Entwicklungsländern zu behandeln, in denen dies einheimischen Kräften nicht möglich ist. Die Patienten werden von örtlichen Gesundheitshelfern vordiagnostiziert und vorbereitet. Über Rundfunk, lokale Zeitungen oder Aushänge wird die Bevölkerung über die Ankunft der Experten unterrichtet.

15 Millionen Menschen müssten behandelt werden

Bislang hat „Operation Hernia“ 29 Missionen mit Teams aus Großbritannien, Griechenland, Spanien, Italien, Belgien, Polen, Tschechien, aus den Niederlanden, Südafrika und Deutschland koordiniert. Die meisten Teams stellte bisher Großbritannien, wo die Organisation im Jahr 2005 von dem international renommierten Hernienchirurgen Prof. Dr. Andrew Kingsnorth gegründet wurde.
 
„Operation Hernia“ arbeitet eng mit den offiziellen medizinischen Einrichtungen des jeweiligen Einsatzlandes zusammen. Die internationalen Teams werden von Operateuren geleitet, die nachweislich mehr als 350 Hernien pro Jahr operieren. Alle medizinischen Helfer werden in den jeweiligen Ländern offiziell registriert. Die von den Teams durchgeführten Operationen und deren Resultate werden dokumentiert, kontrolliert und wissenschaftlich ausgewertet. Die eingesetzten medizinischen Instrumente, Medikamente und Materialien müssen europäischen Standards entsprechen. Damit soll auch unter schwierigen hygienischen und räumlichen Verhältnissen eine adäquate Versorgungsqualität sichergestellt werden.

New York hat mehr Ärzte aus Ghana als das Land selbst

In Afrika warten rund 15 Millionen Menschen auf die Versorgung ihres Bauchwandbruches. Die Zahl der Neuerkrankungen pro Jahr ist mit einer Inzidenz von 150/100 000 Einwohner genauso so hoch wie in Europa. Bezogen auf Ghana erkranken pro Jahr 35 000 Menschen an einem Leistenbruch. Die Prävalenz ist jedoch zehnmal höher als in Europa. In Ghana warten rund 300 000 Menschen auf eine Hernienoperation. Dieser Umstand ist damit zu erklären, dass dort etwa 50 ausgebildete Chirurgen 22 Millionen Menschen versorgen müssen (Chirurgendichte 1 : 400 000). Die ghanaischen Chirurgen sind aber fast ausschließlich in den großen Städten tätig. Damit findet eine chirurgische Versorgung der ländlichen Bevölkerung praktisch nicht statt.
 
Von den derzeit in Ghana registrierten 1 700 Ärzten arbeiten 1 150 in der Hauptstadt Accra, die 2,9 Millionen Einwohner zählt. Dort beträgt die Arztdichte mithin 1 : 5 624, während sie im Norden des Landes bei 1 : 45 568 liegt (Ghana Health System 2007). Zum Vergleich: Deutschland weist eine Arztdichte von 1 : 285 aus (Statistisches Bundesamt 2009).
 
 
Abseits der großen Städte im Norden Ghanas liegt Nalerigu. Es mangelt an Ärzten, mit der Folge, dass sich Beschwerden enorm verschlimmern können. Fotos: Marion KoellDer Ärztemangel verschärft sich noch dadurch, dass zwei Drittel der Ärzte Ghana innerhalb der ersten drei Jahre nach der Approbation verlassen, um im Ausland zu arbeiten, weil sie dort mehr verdienen. Dies führt zu der paradoxen Situation, dass in New York mehr Ärzte aus Ghana arbeiten als in Ghana selbst.
 
Das erklärte Ziel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist es, weltweit eine Arztdichte von 1 : 435 zu erreichen. Würde man diesen Maßstab auf die Ausbildungs- und Auswanderungssituation der Ärzte in Ghana anlegen, bräuchte das Land 36 Jahre, um dieses WHO-Ziel zu erreichen. Die meisten Ärzte müssen deshalb chirurgische und geburtshilfliche Tätigkeiten übernehmen, auch wenn sie dafür nicht ausgebildet wurden. Vor diesem Hintergrund ist es erklärtes Ziel der Operation Hernia, einheimische operative Ärzte in den modernen Techniken der Hernienchirurgie zu unterrichten.
 
Die WHO schätzt die Kosten für eine Leistenbruchoperation in einem Entwicklungsland auf 74 US-Dollar. Unser Team von „Operation Hernia“ aus Köln, das im Juni 2010 zwei Wochen lang Patienten in Nalerigu, im Norden Ghanas, operiert hat, finanzierte das OP-Material mit Hilfe zweier Wohltätigkeits-Konzerte und durch großzügige Materialspenden der Industrie.
 
Obwohl die Industrie das Team auch mit Netzen ausgestattet hatte, lag der Preis pro Netz immer noch zwischen 30 und 221 Euro. Damit war klar, dass sich nach Abzug des Teams nur wenige Patienten in Afrika diese Netze würden leisten können. Um eine nachhaltige Hilfe in Gang zu setzen und sicherzustellen, dass sich die Patienten das Material auch nach dem Abzug der Helfer leisten können, wurden während der OPs auch Moskitonetze eingesetzt. Diese Netze aus Polyethylen, die zusammen mit den chirurgischen Instrumenten sterilisiert wurden, kosten weniger als einen Cent.
 

Die Schwestern und Pfleger sind kompetent und bemüht

Die meisten Operationen mussten in Lokal- oder Spinalanästhesie durchgeführt werden, da im Krankenhaus von Nalerigu kein Sauerstoff zur Verfügung stand. Bei den Patienten handelte es sich überwiegend um Männer und Kleinkinder.
 
Die Schwestern und Pfleger waren sehr kompetent und bemüht, wenn auch der Hygienestandard nicht europäischen Ansprüchen entsprach. So war ein Pfleger immer mit einer Fliegenklatsche ausgestattet, um die Fliegen vom Operationsfeld oder dem Gesicht des Operateurs zu verjagen. Trotz dieser für Europäer befremdlichen Situation traten bei den 137 operierten Patienten keine postoperativen Infektionen auf.
 
Beeindruckend war die Duldsamkeit der Patienten. Weder die Kinder noch die Erwachsenen zeigten Angst und ertrugen manchmal auftretende Schmerzen nahezu heroisch. Drei Patienten aus dem rund 100 Kilometer entfernten Burkina Faso nahmen einen fünftägigen Fußmarsch auf sich, als sie von unserer Ankunft hörten, um endlich operiert zu werden. Einen Tag später verließen sie die Klinik wieder in Richtung Burkina Faso. Ein weiterer Patient mit einer massiven Hydrozele konnte von sechs Litern Flüssigkeit in seinem Skrotum befreit werden und war nach 20 Jahren endlich wieder in der Lage, sich normal auf einen Stuhl zu setzen.
 

Die Länder Afrikas sind Opfer ihrer politischen Eliten

Warum ist Hilfe von Bürger zu Bürger sinnvoll? Offiziell haben die Staaten Afrikas ihre Souveränität auf internationaler Ebene in den Sechzigerjahren erlangt. Aber dieser veränderte juristische Status bedeutete nicht das Ende der wirtschaftlichen Ausbeutung. Die damals entstandenen neuen politischen Eliten bemächtigten sich durch brutale Unterdrückung der Ressourcen und exportierten diese ins Ausland. Die Einnahmen aus den Verkäufen der Bodenschätze wurden zur eigenen Bereicherung oder für Waffenkäufe verpulvert und nicht in die Entwicklung des Landes gesteckt. Dies führte zum schleichenden Ruin des Länder Afrikas, da die Arbeitskraft der benachteiligten Schichten verschwendet, Handwerk und Metallindustrie zerstört wurden. Gesundheits- und Schulsysteme wurden nicht weiterentwickelt, da die politischen Eliten sich dort selbst nicht behandeln lassen und ihre Kinder zur Ausbildung lieber in die Industriestaaten schicken.
 
Das Kölner Team hat sich für seinen Hilfseinsatz bewusst keiner großen Organisation angeschlossen, weil Entwicklungshilfe oft nur den Gebern und Nehmern nützt und beide kein Interesse an einer Veränderung der Verhältnisse haben. Es geht letztendlich nur darum, die afrikanischen Eliten zu umwerben, um an deren Rohstoffe zu gelangen. Hier bilden die aufstrebenden Staaten wie Indien, Brasilien und China neben den ehemaligen Kolonialmächten keine Ausnahme. Dem Team ging es darum, eigenverantwortlich Direkthilfe zu leisten – von Bürger zu Bürger – unter weitgehender Umgehung der existierenden Eliten auf beiden Seiten.
 
 
Dr. med. Karl-Heinz Moser,
Prof. Dr. med. Markus Heiss, Jürgen Meyer*
 
*Moser (Leiter des Hernienzentrums Köln-Merheim). Heiss (Chefarzt der Viszeral-,Gefäß- und Transplantationschirurgie der Universitätsklinik Witten- Herdecke) und Meyer gehörten dem Operationsteam aus dem Klinikum Merheim in Köln an, das im Juni 2010 in Nalerigu Patienten mit Leistenhernien operiert hat.